Kare, der Mann mit dem Bremsstreifen

Der Bildhauer Wolfgang Sandt arbeitet an einer Skulptur aus Muschelkalk

Während meiner Lehrzeit als Steinmetz, das ist jetzt schon eine ganze Weile her, arbeitete in meiner Lehrfirma ab und an auch ein alter Steinmetz.

Sein offizieller Name war Karl, aber alle nannten ihn Kare.

Ursprünglich stammte er aus Nürnberg, gehörte aber zu der Generation von Steinmetzen, für die es noch ganz selbstverständlich war, als junger Geselle auf die Walz zu gehen, sich in ganz Deutschland bei verschiedensten Steinmetzbetrieben zu verdingen und dabei alles aufzugreifen, was man als Steinmetz nur lernen konnte.

Er erzählte uns von dieser Zeit, wann immer es die Arbeit zuließ.

Besonders stolz war er darauf, beim Bau des Hauses der Kunst in München mitgearbeitet zu haben.

Kare war schon als junger Mann aufgrund seines Selbstverständnisses als Anhänger der Arbeiterbewegung und Gewerkschaftsmitglied ein erklärter Gegner der Nazis, aber am Haus der Kunst, Haus der deutschen Kunst, wie er es noch nannte, mitwirken zu dürfen, war für ihn als Steinmetz dann doch eine große Sache.

Kare war eigentlich schon in Pension, aber er wurde immer wieder geholt, wenn Not am Mann war und es mehr Arbeit gab, als die anderen im Betrieb erledigen konnten.

Es ist sicher nicht verkehrt, ihn als Original zu bezeichnen. Er war fast so breit wie hoch und auf seinem Kopf saß, fast wie festgeklebt, immer ein aus einer alten Zeitung gefaltetes Papierschiffchen.

Abgesehen davon war das modischste was an ihm zu sehen war, ein ausgebleichtes, kariertes Hemd und eine alte, ziemlich weite Hose.

Natürlich trug er den Schaber, die traditionelle, blaue Steinmetzschürze, eine Errungenschaft aus früheren Zeiten als Kleider noch teuer waren, und niemand seine Hosen und andere Kleidungsstücke unnötig abnutzen wollte.

Außerdem, so wurde uns Lehrlingen sehr nachdrücklich von Kare und anderen alten Steinmetzen versichert, diene der Schaber zum Schutz unserer Intimteile, weil man sich schnell beim Kontakt mit den kalten Steinen eine Blasenentzündung oder, nicht näher spezifiziertes, Schlimmeres zuziehen könne.

An heißen Sommertagen verzichtete Kare für gewöhnlich ganz auf unnötige Kleidungsstücke. Man sah ihn dann, nur mit Feinripp-Unterhemd und einer fast knielangen, schlabbrigen, angegrauten Unterhose bekleidet, die auf der Rückseite einen, trotz des alles bedeckenden Steinstaubs klar sichtbaren, braunen Bremsstreifen aufwies.

Natürlich war seine Vorderseite und somit auch die der Unterhose züchtig vom Schaber bedeckt.

Trotzdem versuchten unser Chef oder dessen Frau wenn Kunden kamen, diese unauffällig von Kare fernzuhalten, beziehungsweise diese irgendwie so um ihn herum zu lenken, dass er nicht in ihrem Gesichtsfeld aufschien.

Uns Lehrlingen (Auszubildende sagte man damals noch kaum, obwohl das schon die offizielle Bezeichnung war) war Kare immer ein Freund und oft auch ein Helfer in der Not.

Natürlich passierte es immer wieder, dass bei der Bearbeitung eines Grabsteins eine Kante abbrach. War in solchen Fällen Kare in der Nähe, blickte er sich zunächst mit listig, unschuldiger Miene um, ob unser Chef irgendwo zu sehen war.

War dies der Fall, schaffte er heimlich das abgebrochene Stückchen an einen sicheren Platz, wo es weder verlorengehen, noch von irgendjemand gesehen werden konnte.

Dann tarnte er die beschädigte Stelle mit schnell zusammengekratztem Staub und Steinsplittern, von denen es reichlich gab.

Jetzt konnte der ungeschickte Lehrling am selben Stein an anderer Stelle weitermachen, in der Hoffnung, dass unser Chef nicht noch zufälligerweise doch etwas merken würde.

War sichergestellt, dass der Chef nicht im Betrieb oder zuverlässig langfristig mit etwas anderem beschäftigt war, winkte uns Kare  mit einem leisen „Sch sch“ wieder zu sich.

Nun kramte er aus einer Ecke seines Arbeitsplatzes eine Dose mit Steinkitt in zum Stein passender Farbe, holte das abgeplatzte Stückchen aus seinem Versteck und machte sich daran, dieses wieder an den Stein zu kleben.

 

 

Der Bildhauer Wolfgang Sandt prüft die Oberfläche einer Skulptur.

Das machte er so geschickt, dass man hinterher schon sehr genau hinschauen und fühlen musste, wenn man das abgebrochene Stück entdecken wollte, vor allem nachdem es wie der Rest des Steins bearbeitet worden war.

Meistens erkannte man nichts mehr von der gekitteten Stelle.

Mit einem Augenzwinkern meinte Kare dann, wobei noch ein Hauch seines heimatlichen Nürnberger Dialekts mitschwang: „Die schlechtesten Steinmetze sind die besten Kitter.“

Auch ich wurde im Lauf der Zeit ein guter Kitter. Ob ich deswegen ein schlechter Steinmetz wurde, lasse ich dahin gestellt sein.

 

 

P.S. Natürlich erfuhren wir von Kare noch manch andere interessante Dinge, aber darüber ein andermal mehr.

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